von Jil Joëlle Lüscher

Der Tod – das wohl grösste Geheimnis des Lebens. Die Formel dazu: Wir sterben, weil wir geboren sind. Jil Joëlle Lüscher flirtet mit dem Tod – nicht, weil sie lebensmüde ist und auch nicht weil ihr der Tod in Gestalt eines Adonis erschienen wäre, so wie im Film «Meet Joe Black». Es ist vielmehr die Tatsache, dass es Leben ohne Tod nicht gibt, die Jil Joëlle Lüscher fasziniert und ihr Inspiration zu den nachfolgenden Zeilen war. Dabei handelt es sich gleichsam um eine Art von Vorwort zu einem Buchprojekt, an dem Jil Joëlle arbeitet.

Leben ohne Tod gibt es nicht.

Der Tod schreckt ab. Niemand will ihm begegnen, es sei denn, der Tod bedeutet Erlösung. Oder er hat die Gestalt eines gutaussehenden Mannes. So, wie im Film «Meet Joe Black», wo der Tod von Bratt Pitt gespielt wird. Ein modernes Märchen, wunderschön inszeniert à la Hollywood.  – Wie aber sieht die Realität aus?

Im Leben dreht sich alles um – leben. Lang leben, gut leben, gesund leben, leben und lieben. Sterben kommt später. Ist man jung, kommt sterben nie. Der Tod holt andere, Alte, Kranke, Unfallopfer, Pechvögel. «Der Tod ist weit weg von mir». So denken wir, so hoffen wir. Was für eine Illusion! Was für ein Irrglauben. Das Gegenteil ist der Fall. Der Tod ist vom Moment der Zeugung, der ersten Zellteilung an unserer Seite. Treu, bis wir sterben – und darüber hinaus. Leben ohne den Tod gibt es nicht – zumindest noch nicht. Wir sterben schliesslich nur deshalb, weil wir geboren sind. Logisch oder?

TOTGEBORENE ENGELSKINDER

Ich frage meine Freundin, «wer war bei der Geburt deiner Tochter anwesend?» Sie: «Ihr Vater und das Klinikpersonal…». «Wer noch?» – «Niemand». Logisch hat sie niemanden anders wahrgenommen. Der Tod gibt sich – anders als im Film «Meet Joe Black» – erst zu erkennen, wenn er gewillt ist zuzuschlagen. Oder bereits zugeschlagen hat – bei einer Totgeburt etwa. Stirbt ein Kind während der Schwangerschaft ab einem Mindestgewicht von 500 Gramm, ist dieses Kind in der Fachsprache ein «Totgeborenes». Umgangssprachlich schöner: Ein «Sternenkind», «Schmetterlingskind» oder «Engelskind».

Engel. Sie sind die Geliebten des Todes. Engel haben Macht über den Tod. Der Tod ist immer an unserer Seite und Engel immer an der Seite des Todes.

EXPERIMENT MIT TODESGEFAHR

Ich glaube an Engel. Spätestens seit diesem Sonntagmorgen, als der Sekundenschlaf an meinem Leben zerrte. Ich habe die Nacht durchgearbeitet, bin müde, sehne mich nach meinem Bett. Die Autofahrt nachhause zieht sich in die Länge, ich kämpfe gegen die Müdigkeit, die durch die Monotonie der Autobahnfahrt zusätzlich getriggert wird. Ein schnurgerader, komplett verkehrsfreier Streckenabschnitt animiert mich zu einem Experiment – in dieser Situation – müde, Kampf gegen den Schlaf, das wohl dümmste aller Experimente, eine verführerische Einladung für «Joe Black».

Ich will herausfinden, ob es mich beim Fahren mit geschlossenen Augen eher nach links, oder nach rechts zieht. Ich switche auf Blindflug, schliesse die Augen. Meine Absicht war es, nur für einen kurzen Moment, ein, zwei Sekunden höchstens, mit geschlossenen Augen hinter dem Lenkrad über die Autobahn zu brausen, lebensmüde war ich ja nicht. Das Problem: Die bleischwere Müdigkeit in mir checkt die Idee nicht ganz und stellt, kaum hatte ich die Augen zu, auf Schlafmodus. Der Crash ist unvermeidlich.

Engel haben Macht über den Tod. Der Tod ist immer an unserer Seite und Engel immer an der Seite des Todes.

ENGELSSIGNATUR

Die Knochen halten dem automobilen Salto Mortale zwar Stand, nicht aber die Schlagader. Blut pulsiert aus meinem aufgerissenen Unterarm. Viel Blut. Ich habe Schiss, stehe im roten Saft getränkt neben dem Wrack: «Lieber Gott, steh mir bei, lass mich nicht sterben». Der liebe Gott ist online, schickt Hilfe. «Los, komm, schnell!», ertönt es plötzlich. Eine Stimme fordert mich auf in das Auto einzusteigen, das auf einmal neben mir steht. Wir rasen in die nächstgelegene Spital-Notfallaufnahme. Noch bevor mich das medizinische Personal in Empfang nimmt, ist das Auto weg, – gekommen aus dem Nichts, verschwunden im Nichts. Keine Frage, es muss ein Engel gewesen sein. Eine furchige Narbe auf meinem Unterarm erinnert mich an seine lebensrettende Tat. Seine «Unterschrift» erinnert mich an die Fragilität des Lebens und an die Vergänglichkeit.

Der Tod ist bei mir leer ausgegangen, dafür hat er sich an meiner Familie gütlich getan. Früh mussten meine Eltern und meine Schwester von dieser Welt Abschied nehmen. Und mir ist zu Lebzeiten versagt geblieben, emotionale Zuneigung zu ihnen aufzubauen. Erst der Tod hat die zurückgehaltene Liebe freigegeben. Das mit einer Wucht an Vollkommenheit, die sich kaum in Worte fassen lässt. Es ist die Bestätigung, dass Engel die Kraft haben, verletzte Seelen zu heilen.

Engel tauchen dich ein in eine Wolke aus Frieden und Glückseligkeit

ENGELSBESUCH

«Nein, du musst dich nicht fürchten», sage ich meiner Tochter, Engel erschrecken dich nicht. Engel tauchen dich ein in eine Wolke aus Frieden und Glückseligkeit. Ich erzähle ihr von der Begegnung mit meinem verstorbenen Vater. Sein Besuch überrascht mich im Schlaf. Er ist gekommen, um sich mit mir zu versöhnen, nimmt mich herzlich in seine Arme. Herzlich väterlich. In diesem von Zeit und Raum befreiten Moment spüre ich all die Zuneigung, Zärtlichkeit und Liebe, die mir mein Vater zu Lebzeiten nicht geben konnte. Dann verabschiedet er sich und tiefer Frieden legt sich um meine Seele. Die erlösende, ja fast schon erleuchtende Schönheit dieses Traumes ist von einer Dimension, die jeden Zweifel an der Existenz von Engeln ins Leere laufen lässt.

Meine Schwester, sie sagte immer, mit 50 würde sie sterben, Grossvater habe ihr das einmal im Traum gesagt. Meine Schwester neigte dazu, viel zu trinken. In Kombination mit Alkohol wurde sie zudem zur Kettenraucherin. Sie qualmte derart stark und permanent, dass man gar nicht mehr unterscheiden konnte, ob nur die Zigarrette mottete oder gar sie selber Feuer gefangen hat. Wenn sie sprach, sprach sie Sätze in Staccato, nervig unterbrochen durch dieses pfffhhh, pffhhh-Geräusch. Nach jedem dritten Wort ein kurzer, hastiger Zug am Glimmstengel – pfffhhh. Kurz nach ihrem 52. Geburtstag hörte sie auf zu rauchen, ­– «Herzversagen», lautete die offizielle Todesursache. Gestorben in den Ferien, im Wohnmobil ihres Freundes.

Der Tod nimmt und der Tod gibt

GENUSS BIS ZUM LETZTEN ATEMZUG

Meine Schwester war ein Lebe- und Genussmensch. Sie konnte glaubhaft den Eindruck vermitteln, glücklich zu sein. Ganz im Unterschied zu meinen Eltern, ihnen gelang das nie. Alkohol konsumierte meine Schwester an Wochenenden solange und so viel sie Lust dazu hatte. Diese Lust schwoll mit jedem gekippten Glas, mit jeder geleerten Flasche an. Alkoholikerin? Nein. Diese Rolle war in der Familie durch meine Mutter bestens besetzt. Meine Schwester und auch mein Vater hatten sich während der Arbeitswoche unter Kontrolle. Beides sehr gewissenhafte, zuverlässige und geschätzte Arbeitskräfte.

Ich konnte mich nie anfreunden mit diesem aus meiner Sicht liederlichen Leben meiner Schwester. Ich habe es ihr erst verziehen, als es aufgehört hat zu existieren, so abrupt und unerwartet, wie das meines Vaters. Auch er unterwegs in die Ferien. Auch er Tod durch Herzversagen. Meine Schwester war dabei. Der Tod holte zuerst den Vater, dann, zwei Jahre später, knöpfte er sich meine Schwester vor.

DER BLUMENTANZ

Liebe Mutter, wie oft hast du versucht, an mir gut zu machen, was zwischen uns schiefgelaufen sein muss. Wie schmerzvoll muss es gewesen sein, ohne Bindung zum eigenen Kind leben zu müssen. Jeder Versuch einer Annäherung hat mich unweigerlich weiter von dir weggetrieben. Wie zwei Magnete, die einander gleichpolig zubewegt werden. Kurz bevor dich deine dich quälenden Atemzüge für immer in Frieden gelassen haben, erzählst du mir von deinem wiederkehrenden Traum.

Es ist der Traum, der dich das Schwert aus meinem versteinerten Herzen hat ziehen lassen, leicht, so wie König Artus den Exkalibur aus dem Felsen hat befreien können. Immer wieder höre ich dich den Traum erzählen und er hat nichts von seiner Engelskraft eingebüsst, ist so überwältigend wie ehedem.

Du erzählst mir, wie du im Traum mit meiner Tochter an der Hand leichtfüssig über eine in den schönsten Farben leuchtende und sommerlich duftende Blumenwiese tanzt. Ihr lacht herzhaft. Die Sommerbrise spielt in euren blonden Haaren und die Bienen summen ihre sanfte Melodie dazu. Der Traum hat sämtliche Fesseln von meinem Herzen gesprengt. Der Tod war gnädig mit mir, er hat dir die Zeit gegeben, mir diesen Traum zu erzählen. 

Ja, der Tod nimmt und der Tod gibt.

Text und Fotos: Jil Joëlle Lüscher