Das Buch «Megatrends» war anfangs der 1980er-Jahre der Renner. Innert kürzester Zeit erreichte der Bestseller eine Millionenauflage, wurde in über 50 andere Sprachen übersetzt und hielt sich als Sachbuch-Bestseller monatelang auf Position eins. John Naisbitt, der Autor, war ja auch kein Kaffeesatz-Leser und kein Astrologie-Fantast nach Manier von Madame Teissier. Im Gegenteil, Naisbitt war Absolvent der Elite-Universität Harvard, unter John F. Kennedy Stellvertretender Erziehungsminister und später Special-Assistant von US-Präsident Lyndon B. Johnson. Wo lag John Naisbitt mit seinen Prognosen richtig und wo lag er falsch? Und warum lag er in einigen Punkten falsch? Ist Zukunftsforschung überhaupt sinnvoll? «trends & style» zeigt auf, ob sich diese Trends durchsetzen konnten oder zu Flops wurden.
Megatrend 1: Von der Industrie- zur Informationsgesellschaft
Es ist bekannt: Die Entwicklung von der Industrie- zur Informationsgesellschaft hat stattgefunden und dauert an. 1980 gab es bereits die Computer, deren zunehmende Bedeutung war erkennbar. Aber auch John Naisbitt konnte sich nicht vorstellen, dass der Siegeszug und die Popularisierung des elektronischen Rechners so schnell erfolgen würden. Dass eine gute Generation später schon zwei von sieben Milliarden Menschen in Form eines Smartphones einen aus damaliger Sicht hochleistungsfähigen Computer mit bald unendlicher Speicherkapazität im Taschenformat mit sich herumtragen würden, war damals absolut undenkbar. Aber nicht nur in der Schnelligkeit des Wandels täuschte sich Naisbitt. In seiner Analyse glaubte er auch noch, Wissen bedeute Reichtum. Dass heute dank dem Internet das Wissen dieser Welt weitestgehend gratis zugänglich ist, war damals nicht vorauszusehen, denn das World Wide Web kam erst in den 1990er-Jahren zum Laufen.
Megatrend 2: Wachsendes Kontaktbedürfnis aufgrund mehr Technologie
Naisbitt wörtlich: «Je mehr Technologie wir in die Gesellschaft einführen, desto mehr drängen sich die Menschen zusammen, wollen miteinander und beisammen, nicht allein sein: im Kino, bei Rock-Konzerten, beim Einkaufsbummel. Shopping-Zentren sind inzwischen bereits nach dem eigenen Heim und dem Arbeitsplatz zum dritthäufigsten besuchten Ort in unserem Leben geworden.» Man ist geneigt zu sagen: Naisbitt lag absolut richtig. Die modernen Menschen gehen gern unter die Leute, an Massenveranstaltungen, da, wo alle hingehen. In einem Punkt allerdings hat sich Naisbitt getäuscht. Wörtlich: «Einkäufe per Computer werden niemals die Freuden des persönlichen Einkaufes ersetzen können. Jedes Überraschungsmoment des Einkaufens würde verloren gehen.» Heute weiss man: 2015 hat die Schweizerische Post so viele Pakete spediert wie nie zuvor. Der Online-Handel wächst und wächst. Amazon lässt grüssen!
Megatrend 3: Von der Nationalökonomie zur Weltwirtschaft
Diesen Punkt kann man abhaken, es ist genau so gekommen. – Trotzdem ist es interessant, was John Naisbitt zu diesem Thema schrieb. Die letzten Zeilen dieses Kapitels lauten: «Wenn es heute (1982) bei einem Land wie Japan nicht mehr vorstellbar ist, allein schon aus rein wirtschaftlichen Rücksichten, noch jemals militärisch übereinander herzufallen, warum dann nicht eines fernen Tages auch bei der Sowjetunion, wenn der Handel mit der UdSSR bis dahin offen genug, politisch ungehemmt und entsprechend weit entwickelt ist? Von den Ländern der Dritten Welt gar nicht zu reden. Ich jedenfalls finde: Je enger und intensiver die Weltwirtschaft wird, desto mehr bewegen wir uns auf einen immerwährenden Weltfrieden zu, auch wenn das im Augenblick noch so grössenwahnsinnig und vermessen klingen mag.» Den Zusammenbruch der Sowjetunion sieben Jahre später hat John Naisbitt nicht vorausgesehen. Aber auch die «Friedensliebe» seines eigenen Landes hat er – mit Verlaub – total falsch eingeschätzt. Leider.
Megatrend 4: Von kurzfristig zu langfristig
Total danebengegriffen hat John Naisbitt mit dem von ihm prophezeiten Megatrend, die Wirtschaft werde sich mehr und mehr an langfristigen Zielen orientieren. Zwar steht da ein Satz, den man jederzeit unterschreiben könnte: «Langfristige Pläne müssen an die Stelle kurzfristigen Profitmachens treten oder unser geschäftlicher Niedergang – und der der ganzen westlichen Welt – wird sich noch beschleunigen.» Naisbitts Optimismus aber, dass diese Erkenntnis auch tatsächlich zu einem Umdenken führe, blieb ein frommer Wunsch. Die ganze Geschäftswelt denkt heute kurzfristiger denn je und ist, wie Naisbitt richtig bemerkte, mit dieser Geschäftspolitik daran, den Niedergang der westlichen Welt zu beschleunigen, wenn nicht bereits zu besiegeln.
Megatrend 5: Von der Zentralisation zur Dezentralisation
Dieses Kapitel im Buch «Megatrends» bezieht sich vor allem auf die USA und auf das Verhältnis zwischen Washington und den Bundesstaaten. Wie immer ein Optimist glaubte Naisbitt, eine Stärkung des regionalen Denkens zu erkennen. – Auch hier ist es beim frommen Wunsch geblieben – nicht nur in den USA.
Megatrend 6: Von der institutionalisierten Amtshilfe zur Selbsthilfe
John Naisbitt glaubte, in der US-amerikanischen Bevölkerung der 1960er-Jahre so etwas wie eine Ermüdung festzustellen. Als Folge der traumatischen Wirtschaftsdepression in den frühen Dreissigern, des Zweiten Weltkriegs und des verlorenen Vietnamkrieges habe man sich mehr und mehr auf «Institutionen» zu verlassen begonnen: auf die Ärzte und ihre Tabletten, auf Schulen, auf Firmen. Dann aber, in den 1970er-Jahren, sei das Selbstvertrauen der Amerikaner wieder erwacht. Statt auf die Medizin verlasse man sich wieder auf Fitnessprogramme, bilde die Kinder wieder zu Hause statt in den finanziell in Schwierigkeiten steckenden Schulen aus, man repariere oder baue sein Haus wieder selber, beschütze sich vor Kriminellen mit eigenen Waffen selber, mache sich beruflich selbstständig und trainiere das Überleben in Survival-Camps. Auch das Einsetzen des Geldes auf eigenes Risiko mit deutlich höheren Gewinnchancen sei wieder «in». Hat sich auch dieser Megatrend als richtig erwiesen? In den USA sicher – bei der besser gestellten Hälfte der Bevölkerung, und zum Nachteil der anderen Hälfte. Denn die Selbsthilfe – heute wird eher das Wort Eigenverantwortung gebraucht – stärkt jene, die die drei «G» haben: Gesundheit, Geld und Glück, also zum Beispiel einen reichen Onkel oder einen Ehepartner aus der «guten Gesellschaft». In Europa, den USA oft hinterherhinkend, sind finanzstarke Gruppen – in der Schweiz etwa der Think-Tank Avenir Suisse – daran, dieses Denken jetzt zu importieren.
Megatrend 7: Von der repräsentativen zur partizipatorischen Demokratie
Das Zwei-Parteien-System in den USA sei tot, schrieb John Naisbitt und erklärte das damit, dass die repräsentative Demokratie 200 Jahre zuvor nur deshalb installiert worden sei, weil es mangels Kommunikationsmöglichkeiten gar nicht anders ging. Jetzt aber, im Zeitalter der schnellen Kommunikation, sei das System veraltet und nicht mehr zu rechtfertigen. Es sei jetzt das Zeitalter der Referenden und der Bürgerinitiativen angebrochen, also der partizipatorischen Demokratie. (Nach heutigem Sprachgebrauch hätte er auch schreiben können: der direkten Demokratie.) Der Trend sei offensichtlich. Den Vormarsch des partizipatorischen Entscheidungssystems sah er aber nicht nur im Staat, sondern vor allem auch bei den Mammut-Konzernen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen seien nicht mehr bereit, einsame Entscheidungen der Bosse zu akzeptieren und diese hätten das auch begriffen. Es würden zusehends mehr unabhängige, aussenstehende Leute in die Aufsichtsräte gewählt, die die Interessen der Bevölkerung vertreten könnten.
Was John Naisbitt da als «Megatrend» zu erkennen glaubte, war aber gerademal sein eigener Wunsch. Nichts von dem hat sich realisiert, weder in den USA noch in Europa, weder in den politischen Systemen noch bei den grossen Konzernen. Im Gegenteil: Bei den Firmen ist der noch vor Jahren geforderte partizipative Führungsstil total «out», gefragt sind Manager, die nicht lange fragen, sondern knallhart entscheiden – und anschliessend auch knallhart kassieren.
Megatrend 8: Von Hierarchien zu Verbundenheit, Verflechtung und gegenseitiger Abhängigkeit
John Naisbitt erklärte in seinem Bestseller, dass bisher alle Machtstrukturen die Form einer Pyramide hatten: von den altrömischen Armeen über die Katholische Kirche bis zu den Organigrammen von General Motors und IBM. Das aber habe sich in den 1960er- und 1970er-Jahren geändert zugunsten von Netzstrukturen. Naisbitt wörtlich: «Das Versagen der Hierarchien, die sozialen Probleme zu lösen, zwang die Menschen, miteinander zu reden – was zum Anfang der Netzstrukturbildung führte.» Und wieder kam er auf die Firmen zu sprechen, die sich wandeln würden: «Wir werden unsere Grossfirmen in immer kleinere und noch kleinere Einheiten unterteilen müssen, in mehr unternehmerische Einheiten, mehr partizipierende Einheiten.»
Was aber hat sich seither tatsächlich abgespielt? Netzwerke haben tatsächlich an Bedeutung gewonnen, aber nicht schon in den 1980er- und 1990er-Jahren, sondern erst mit den sogenannten «Social Media»-Netzwerken, von denen John Naisbitt noch keine Ahnung hatte. Und in der Welt der Firmen ist es beim Alten geblieben – oder noch schlimmer geworden. Heute ist der CEO einer Firma der absolute Boss, schon die übrigen Mitglieder der meist mehrköpfigen Geschäftsleitung haben praktisch nichts mehr zu sagen.
Megatrend 9: Von Norden nach Süden
Dieser von Naisbitt aufgeführte Megatrend kann hier übersprungen werden, da er sich ausschliesslich auf die USA bezieht und auf die Gewichtsverlagerung der Geschäftswelt von den Bundesstaaten im Nordosten der USA nach Kalifornien, Texas und Florida. Für Europa unerheblich.
Megatrend 10: Vom Entweder/Oder zur multiplen Option
Unter diesem Megatrend subsummierte Naisbitt die Verlagerung der Familie zum einzelnen Individuum, zur neuen Einbeziehung der Frauen in den Wirtschaftsprozess, zur flexiblen Arbeitszeit, zur Freiheit der Kunst oder auch den Rückgang der grossen «alten» Glaubensgemeinschaften zugunsten neuer kleiner kirchlichen Gemeinschaften. Auch technologisch: Naisbitt erwähnt das Kabelfernsehen als «Special Interest»-Information, also für individuelle Bedürfnisse. Besonders interessant: «Von dem Mythos, ein Schmelztiegel der Völker und Rassen zu sein, ist man in den USA dazu übergegangen, die kulturelle Verschiedenheit als Bereicherung zu begrüssen», so Naisbitt. Womit er so ganz falsch nicht lag. Diesen Trend gab es und gibt es, auch wenn er die nach wie vor verbreitete Diskriminierung der Schwarzen mental einfach ausklammerte.